Liebe Leserin, lieber Leser,
als ich am 1. Weihnachtstag 1998 mit einem stechenden Schmerz durch den Rücken unter der Dusche zusammenklappte, wusste ich innerlich: Das ist kein Hexenschuss. Und ich hatte mich auch nirgends unglücklich bewegt oder fehlbelastet. Was mir damals noch nicht klar war: Das war der laute Schrei meines Körpers nach Beachtung und Behutsamkeit. Damals war ich 16 Jahre jung. Niemals wäre ich auf die Idee gekommen, dass mein Körper „Makel“ hat, denn ich war sehr sportlich und hatte Spaß an Bewegung. Doch das innere Gefühl ließ mich nicht los, dass hierin etwas Besonderes lag. Das Einrenken diverser Wirbel, Spritzen gegen die anhaltenden Schmerzen und den Rat, mich mehr zu schonen bekam ich seitdem immer häufiger. Zehn Jahre später, ich war mit ihm aufgrund der häufigen Besuche während meiner Mittagspause bereits per Du, mahnte mein Hausarzt mich, dass ich so nicht weitermachen könne und eine Diagnose her müsse. Das war nett gemeint, denn gängige Schmerztabletten und Wirkstoffe wie Ibroprofen ließen meinen Körper mittlerweile kalt – ich reagierte nicht mehr auf sie. Nachdem ich meine innere Hürde genommen habe, meine „Besonderheit“ ab diesem Zeitpunkt nicht mehr geheim halten zu können, fing ich an, mich von verschiedenen medizinischen Fachbereichen untersuchen zu lassen.
Es wurde zur Odysee. Ich habe notiert, dass ich August 2010 bis Juli 2011 an 200 Tagen in ärztlicher oder therapeutischer Behandlung bzw. Untersuchung war. Das war der Zeitpunkt, an dem ich meinen Beruf, ich war zu der Zeit Assistentin der Geschäftsführung der Vitakraft-Werke in Bremen, an den Nagel hängte. Aus Angst, aus Unsicherheit und aus Ungewissheit, wie meine Zukunft wohl aussehen möge. An ganz miserablen Tagen schrieb ich mir eine Bucket List mit Stichpunkten, was ich unbedingt noch erleben wollte. Man konnte ja nicht wissen, wie lange... Es war furchtbar. Es stellte mein ganzes Leben auf den Kopf. Weil nun auch alle Familienmitglieder, Freunde und Bekannte dieses Chaos zwischen Hoffnung und Aussichtlosigkeit mitkriegten, waren nicht nur mein Berufsleben und meine Partnerschaft, sondern alle privaten Beziehungen betroffen. Man hielt mich für unglaubwürdig, weil ich an manchen Tagen springen und tanzen konnte (ich tanze leidenschaftlich gern Standard/Latein) und an anderen Tagen nur auf allen Vieren aus dem Bett kam. Mal ging ich zum Yoga-Kurs und schaffte ambitionierte Asanas, mal war der Weg zu meinen Schnürsenkeln zu weit. Mein damaliger Mann, der mich als starke und selbstbewusste Frau kennenlernte, war zwar hilfsbereit, aber gleichzeitig völlig verdattert in Angesicht meiner scheinbar fremden Person. Einige wendeten sich schon in dieser Zeit von mir ab – nicht jeder Mensch das kann Leid eines anderen ertragen und weitgehend hilflos daneben stehen.
Meine Gefühle fuhren Achterbahn. Um nicht das Leben zu verpassen und weiterhin mithalten zu können, machte ich mich nahtlos an den Ausstieg aus meiner Anstellung in 2011 selbstständig. Das war in meinen Augen die einzig logische Konsequenz, denn darin konnte ich den Umfang meiner Arbeit selbst bestimmen und gleichzeitig flexibel die bis dato in ganz Norddeutschland verbreiteten Facharztbesuche wahrzunehmen. Allerdings zu dem Preis, zu jeder Zeit in vollem Ausmaß für mein täglich Brot verantwortlich zu sein.
In der siebten Klinik, in der ich stationär aufgenommen worden bin, habe ich meinen Retter kennengelernt – insofern, dass Chefarzt Dr. Joachim Ulma im RKK Bremen sich ein Herz fasste und mir zusagte, mich so lange da zu behalten, bis die Diagnose feststeht. Das war meine Rettung: Im Juli 2012 erfuhr ich, dass es sich um Fibromyalgie handelt. Eine unsichtbare chronische Schmerzerkrankung mit Schüben, der man mit ausreichend guten Bedingungen Herr werden und Lebensqualität erreichen konnte. Dies ist seitdem meine vorrangige Aufgabe und sie gelingt mir ganz gut.
Vorhin schrieb ich von meiner Bucket List, meiner Löffelliste, bevor ich den Löffel abgebe. Diese hat seitdem und bis heute oberste Priorität. Diese Zeit, so unangenehm sie auch war, war für mich insofern wertvoll, dass ich gerade dann bewusster geworden bin. Ich bin meiner selbst bewusster geworden. Ich bin mir meiner Werte bewusst geworden. Ich weiß seitdem, was mich antreibt und was ich unbedingt noch erleben will. So habe ich im September 2012 erfahren, dass sich endlich, aus einer schmerzlosen Passage heraus, mein großer Traum erfüllte, Mutter zu werden. Allerdings kam meine Tochter fast zehn Wochen zu früh zur Welt. Ob es an meinen körperlichen Möglichkeiten oder am Stress lag, kann ich nicht beurteilen. Meine Tochter kam, mein Mann ging. Und mit ihm mein Traum von der heilen Familie, unser Eigenheim und einige wertvolle Verbindungen, die sich im Zuge einer Trennung für eine Seite entscheiden.
Meine Selbstständigkeit blieb. Mit ihr verwirkliche ich bis heute eine Anzahl meiner Punkte von der Löffelliste: Nicht nur selbst ein wertvolles Leben zu führen, sondern auch mehr Wert in das Leben anderer Menschen zu bringen, indem ich ihnen als Führungskräftetrainerin und Personalentwicklerin zu mehr Arbeitszufriedenheit, Ausgeglichenheit und Selbstwirksamkeit verhelfe. Loyalität, mein Kernwert als Unternehmerin, ist nicht nur eine Empfindung, sondern auch eine Entscheidung.
Alles fängt in unserem Inneren an. Unsere innere Haltung führt zu unserem Verhalten. Dies betrifft, wie wir uns selbst sehen, wie wir die Menschen um uns herum sehen und wie wir aufs große Ganze schauen. Manchmal kostet es großen Mut, so hemmungslos ehrlich mit sich selbst und anderen gegenüber zu sein. Dazu zu stehen, wenn man als Einzige in einem Saal eine andere Meinung vertritt. Wenn man lieber Single bleibt als faule Kompromisse einzugehen. Wenn man das finanzielle Risiko eingeht, nicht zu wissen, ob die eigene Arbeit Anerkennung und Abnehmer findet. Manchmal schaffen wir diesen Schritt alleine, mal braucht er Zeit und manchmal benötigt wohl jeder von uns Ermutigung von außen. Das geht mir ganz genauso.
Erst seit 2020, also zehn Jahre nachdem ich mich selbstständig gemacht habe, hatte ich genug Mut, meine Fibromyalgie-Erkrankung nicht nur im privaten Umfeld, sondern auch im Internet und überall öffentlich zu machen. Ich hatte Angst vor diesem Schritt, weil ich vorher die Erfahrung gemacht hatte, dass in der Gesellschaft die Meinung verbreitet ist, dass wer invalide auch gleich imkompetent ist. Das stimmt natürlich überhaupt nicht! Doch zu riskieren, dass ich möglicherweise meine Aufträge und Auftraggeber verliere, wenn ich mich damit oute, brachte mir einige schlaflose Nächte ein. Am Ende gewannen auch da wieder meine inneren Werte und Überzeugungen. Ich bin, wer ich bin. Das ist meine Loyalität mir selbst gegenüber. Ich mache meine Arbeit auf diese Art, weil ich genau diese Erfahrungen mitbringe. Ich bin gefallen, ich bin gescheitert, ich wurde hängengelassen. Und ich bin jedes Mal wieder aufgestanden, ich habe neue Wege und Chancen gesucht und ergriffen. Ich gehe auf neue Menschen zu.
Ich glaube an das Gute und ich vertraue auf mein Bauchgefühl. Immer wieder gehe ich den ersten Schritt – besonders, wenn es mir gutgeht ;-). Mit jedem Schritt komme ich mehr bei mir an, werde ich ausgeglichener und glücklicher. Nicht zuletzt bekommt das meinem Körper auch sehr gut, nicht mehr „jede Sau durchs Dorf zu treiben“, nicht mehr hinter Menschen herzulaufen, die mich nicht in ihrem Leben haben wollen, mich nicht mehr vor anderer Leute „Karren spannen“ zu lassen. Jeden Tag lerne ich dazu und lasse mich inspirieren, wie ich meine Welt noch schöner zu gestalten und unsere gemeinsame Welt verbessern kann.
Auch wenn Werte und Leitsätze immer ein Ideal darstellen, das niemals vollkommen erreicht wird (so wie unsere Gesundheit), hat mich meine Lebensgeschichte gelehrt, was das Leben wert ist – und was es besonders lebenswert macht.
Mit dieser klaren Aussage ecke ich natürlich ebenso an bei Menschen, die sich nicht hin zu einem schöneren Ziel entwickeln, sondern eher weg von Schmerz orientiert sind. Auch heute wenden sich manche Menschen von mir ab, weil sie mich so nicht aushalten können. Weil ich mir eine Freiheit erlaube, die sich andere nicht zugestehen. Das ist okay. Wir müssen nicht allen gefallen. Wenn wir uns selbst gefallen, ist das schon das Meiste wert!
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